Evolution und Spiel

Spiel ist ein evolutionär angelegtes Verhaltensmuster. Zur Zeit der biologischen Entwicklung des Menschen spielten Kinder vor allem selbstständig, erkundeten mit anderen Kindern ihren Lebensraum und lernten so vieles, was sie zum Leben brauchten. Dieses selbstständige Spielen und Entdecken ist auch ein Bedürfnis heutiger Kinder, weil wir uns biologisch seitdem nicht verändert haben.

Die Evolutionswissenschaft beschäftigt sich damit, wie sich Lebewesen, besonders der Mensch biologisch zu dem entwickelt haben, was sie heute sind. Wieso ist das im Zusammenhang mit dem Draußenspiel interessant?

Unser Körper und unsere Verhaltensmuster entstanden im Verlauf der Evolution durch Reaktion auf äußere Einflüsse innerhalb von sehr langen Zeiträumen. Diese Muster wurden in unseren Erbanlagen abgelegt. Auch das Spielbedürfnis der Kinder entstand auf diese Weise und zwar schon vor sehr langer Zeit. Denn auch Tierkinder spielen. Evolutionswissenschaftler sind deshalb der Ansicht, dass Spiel für die Entwicklung bis zum erwachsenen Tier oder Menschen sehr wichtig sein muss.

Je höher die Entwicklungsstufe der Tiere ist, um so mehr spielen Tierkinder. Beim Menschen ist die Kindheit länger als bei Tieren. Damit ergibt sich ein besonders langer Zeitraum, den Kinder am liebsten spielend verbringen. Denn nur beim Menschen gibt es die sogenannte mittlere Kindheit, den Zeitraum zwischen dem Kleinkindalter und der Pubertät.

Im Kleinkindalter erwerben Kinder kulturübergreifend grundlegende Fähigkeiten wie Laufen und Sprechen. In der mittleren Kindheit, Evolutionsforschern zufolge, wachsen Kinder in ihre jeweilige Kultur hinein. Sie erlernen die Sprache perfekt, lernen Umgangsformen, soziale Mechanismen und den Gebrauch von Techniken. Das gilt immer noch. In der mittleren Kindheit gehen Kinder heute in die Schule.

Aber während unserer biologischen Evolution lebten Menschen als Jäger und Sammler. Die Kinder wuchsen anders als heute in ihre Kultur hinein. In heutigen Jäger- und Sammlerkulturen spielen Kinder vor allem, sagen Ethnologen. Sie sind viel mit anderen Kindern zusammen, machen nach, was Erwachsene tun oder auch nicht. Sie suchen sich im Spiel selbst Nahrung oder üben sich im Werkzeuggebrauch oder lassen es, je nach dem, wie sie es wollen. Im Gegensatz zu Kindern in bäuerlichen Gesellschaften bekommen sie von Erwachsenen kaum Arbeiten aufgetragen.

Die Erwachsenen investieren sehr wenig Arbeit in die Erziehung der Kinder. Es gibt kein systematisches Lernprogramm, dem die Kinder unterworfen werden, um jagen und sammeln zu lernen. Daraus schließen Evolutionsforscher, dass es biologisch angelegt ist, durch Spiel zu lernen.

Ist es also sinnvoll, wenn wir Kindern heute so gut wie keinen unbeobachteten Freiraum mehr zugestehen? Ist es nicht so, dass wir als Erwachsene den Kindern einen wichtigen Zugang zum Leben nehmen, indem wir ihre Selbstständigkeit und ihre räumliche Bewegungsfreiheit so stark einschränken? Könnten Kinder die so wichtige schulische Bildung nicht viel leichter und gewinnbringender aufnehmen, wenn sie mehr Zeit bekämen, selbstbestimmt zu spielen?

Weiterführende Literatur

Christiane Richard-Elsner: Draußen spielen, Beltz Juventa 2017.

Roeper, Malte (2011): Kinder raus! Zurück zur Natur: artgerechtes Leben für den kleinen Homo sapiens. München: Südwest.

Renz-Polster, Herbert; Hüther, Gerald (2013): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum; ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen. Weinheim ˜[u.a.]œ: Beltz.

Renz-Polster, Herbert (2012): Menschenkinder. Plädoyer für eine artgerechte Erziehung. 2. Aufl. München: Kösel.

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