Starke Kinder
Kinder spielen kaum noch draußen. Drei Viertel aller Schulkinder bewegen sich weniger als eine Stunde am Tag. Viele Kinder leiden unter den Folgen von Übergewicht und Bewegungsmangel. Ihre motorischen Fähigkeiten haben sich verschlechtert im Vergleich zu früheren Generationen.
Übergewicht
Es ist kein Zufall, dass Kinder viel weniger draußen spielen als noch vor einigen Jahrzehnten, gleichzeitig aber die Zahl der übergewichtigen Kinder stark zugenommen hat. In der breit angelegten deutschlandweiten KiGGS-Studie wurde festgestellt, dass 15 % der Kinder übergewichtig sind. Davon ist fast die Hälfte sogar stark übergewichtig, adipös. In den neunziger Jahren waren weit mehr Kinder normalgewichtig.
Motorische Leistungsfähigkeit
Auch die motorische Leistungsfähigkeit der Kinder hat sich verschlechtert. Die sportliche Leistungsfähigkeit ist im Mittel geringer als die von vergangenen Kindergenerationen. Viele Kinder haben Haltungsschäden und Rückenschmerzen durch eine zu gering ausgeprägte Muskulatur. Dadurch steigt das Risiko von Unfällen bei sportlichen Aktivitäten.
Bewegung beim Draußenspiel
Draußenspiel ist ohne körperliche Bewegung nicht denkbar. Rennen und Toben, Balancieren, Klettern und Ball Spielen gehören dazu. Aber auch vergleichsweise ruhige Tätigkeiten haben nichts mit der Bewegungslosigkeit vor den elektronischen Medien zu tun. Wer Schiffchen auf einer Pfütze aussetzt oder mit Kreide auf der Straße malt, muss sein Gleichgewicht in der Hocke halten können.
Kinder haben Spaß daran, ihre Geschicklichkeit immer wieder zu trainieren und so die eigenen körperlichen Grenzen immer weiter hinauszuschieben. Immer wieder üben sie das Einradfahren oder gewagte Sprünge mit den Skateboard. Der Antrieb dazu kommt aus ihnen selbst und wird höchstens angeregt durch das Vorbild anderer Kinder.
Immunsystem
Draußen zu spielen trainiert die Abwehrkräfte. Auch in geeigneter Kleidung muss der Körper sich an Wärme oder Kälte, Regen oder Sonne anpassen. Die überall vorhandenen Mikroben in der Erde oder auf Pflanzen rufen wie beim Impfen ständig kleine Abwehrreaktionen hervor, die das Immunsystem trainieren. Durch die regelmäßige Bewegung ist ein ständiger Reiz vorhanden, die Muskulatur zu reparieren und das Immunsystem auf Trab zu halten. Kinder sind dann weniger infektanfällig.
Kurzsichtigkeit
Kinder, die wenig draußen sind, werden schneller kurzsichtig. Die Augen benötigen für ihre Entwicklung ausreichend Tageslicht. Einseitige Belastungen wie Lesen oder Computertätigkeiten wirken sich ebenfalls negativ aus.
Immer mehr Menschen sind kurzsichtig. Bei der Entwicklung von Kurzsichtigkeit spielt die Lebensweise eine weit größere Rolle als lange angenommen. Wissenschaftler fordern deshalb, dass Kinder wieder mehr Zeit draußen mit Spielen verbringen.
Zum Weiterlesen:
Christiane Richard-Elsner: Draußen spielen, Beltz 2017.
Kinder die sich viel bewegen, können sich besser konzentrieren. Kreativität, Selbstwirksamkeit und Selbstständigkeit sind Grundbestandteile des Draußenspiels. Glücklichmachende Substanzen werden beim Draußenspiel unter anderem durch die körperliche Bewegung freigesetzt.
Konzentrationsfähigkeit
Kinder, die eine gute Körperkoordination besitzen, können sich besser konzentrieren. Bewegung verstärkt die Durchblutung im Gehirn und steigert die Gedächtnisleistung. Das Einüben von Bewegungen bewirkt eine Verschaltung von Nervenzellen im Gehirn. Dauernder Medienkonsum schwächt die Konzentrationsfähigkeit.
Selbstwirksamkeit
Im Spiel draußen nehmen sich Kinder als lebendig und aktiv wahr. Sie erleben, dass sie etwas bewirken können. Das ist enorm wichtig für eine optimistische und realistische Sicht auf sich selbst. Kinder setzen sich selbst Ziele und überlegen, wie sie sie erreichen können. Dadurch lernen sich selbst und ihre Umwelt kennen. Sie spüren ihre Grenzen, sie spüren die Widerstände der Natur und der Dinge. Und sie erleben, dass ihre Fähigkeiten wachsen.
Kreativität
Kinder lernen, wie man bei jedem Kleinkind beobachten kann, durch „Begreifen“. Sie lernen die Welt kennen, in dem sie Materialien aus der Umwelt entnehmen und ausprobieren, was man damit machen kann. Kinder äußern sich viel mehr als Erwachsene durch Bewegung. Durch eine vorwiegend sitzende Lebensweise werden sie um einen Teil ihrer kreativen Möglichkeiten gebracht. Beim Draußenspielen folgen Kinder ihren eigenen Bedürfnissen und spontanen Einfällen. Sie spielen Verstecken oder beobachten einen Frosch. Sie probieren aus, wie es sich anfühlt „Vater“ oder „Ärztin“ zu sein. Sie machen Ballspiele, Toben oder Balancieren. Sie kombinieren kreativ das, was sie draußen vorfinden, mit dem, was sie schon gelernt haben. Sie erfinden Spiele und bauen neue Welten. Sie erfahren, wie die Dinge, die Natur oder auch andere Kinder reagieren, wie sie funktionieren.
Selbstständigkeit
Neben den körperlichen Defiziten durch Bewegungsmangel bedeutet ständiges Gefahrenwerden und In-der-Wohnung-Spielen eine erhebliche Einschränkung der Selbstbestimmung und der Selbstständigkeit von Kindern. Kinder, die eigenständig draußen in der Wohnumgebung spielen und ihre Wege zur Schule, zu Freund:innen, zum Sporttraining eigenständig machen, lernen sich im Raum zu orientieren und bauen ein positives Verhältnis zu ihrem Umfeld auf.
Sozialkompetenz
Da beim Draußenspiel nichts vorgegeben ist außer der Spielumgebung, muss das Spiel ständig aktiv weitergetrieben werden. Kinder verhandeln. Was soll gespielt werden? Wer bekommt welche Rolle? Wie trägt jeder zum Budenbau bei? Was ist fair und was ist ein Regelbruch? Kinder müssen zwischen Durchsetzungsfähigkeit und Kompromissbereitschaft abwägen. Erlebnisse müssen erzählt werden. Damit trainieren Kinder ständig ihre soziale Kompetenz, ihre Sprachkompetenz und erweitern ihren Wortschatz.
Geschlechtergerechtigkeit
Studien zeigen, dass gerade in den letzten Jahren Jungen mehr Gelegenheit zu körperlicher Bewegung haben als Mädchen. In der heutigen Kindheit dominieren wettbewerbsorientierte Bewegungsangebote. Diese ziehen häufig mehr Jungen als Mädchen an. Wenn Freiräume viele unterschiedliche Möglichkeiten zum Spiel bieten und Kinder nach ihren eigenen Bedürfnissen spielen können, bewegen sich Mädchen und Jungen jedoch gleich viel.
Ruhe- Erholung- Lernen
Beim Spiel draußen machen Kinder Flow-Erfahrungen. Sie gehen ganz in ihrer Tätigkeit auf. Sie sind vollständig konzentriert und bei sich. Als Kontrast zu angeleiteten Angeboten müssen sie sich im Spiel nicht an Ziele von Erwachsenen anpassen, sondern entwickeln die Aktivität aus sich selbst heraus. Spiel ist eine notwendige Phase für Erholung und Ruhe, in der das, was Kinder kognitiv gelernt haben, sich setzen und verarbeitet werden kann.
… und nicht zuletzt Spaß
Bewegung macht Kindern Spaß. Durch Bewegung werden euphorisierende Substanzen im Körper freigesetzt.
Zum Weiterlesen:
Christiane Richard-Elsner: Draußen spielen, Beltz Juventa 2017.
Kinder, die draußen spielen, suchen oft Naturräume auf, die Wiese, den Wald, den Bach, die Büsche am Straßenrand oder den Garten. Warum?
Brauchen Kinder Natur für ihre Entwicklung? Richard Louv geht davon aus, dass die meisten heutigen Kinder viel zuwenig Kontakt zur Natur haben und deshalb unter einer Natur-Defizit-Störung leiden. Folgen sind Hyperaktivität, die Flucht in virtuelle Welten, Gewalt und Sucht und nicht zuletzt Gleichgültigkeit zu Natur und Umwelt.
Was reizt Kinder an Wald, Wiese und Bach? Die Natur ist vielfältig. Man sich verstecken, wird nicht so kontrolliert, man muss hinterher nicht aufräumen. Naturmaterialien sind weit herausfordernder als Legosteine oder die Rutsche auf dem Spielplatz. Kinder können sich lange mit ihnen beschäftigen und „beherrschen“ sie dann immer noch nicht völlig. Naturbestandteile reagieren überraschend, als Baumaterialien und als Teil einer komplexen Umgebung. Tiere, aber auch Pflanzen werden als Lebewesen wahrgenommen, haben einen „eigenen Kopf“, sind keine Dinge, die man einfach so nimmt und wieder wegwirft.
Spiel in der Natur wirkt stressmildernd und konzentrationsfördernd auf Kinder. Rückblickend verbinden viele Erwachsene Naturerfahrungen in ihrer Kindheit mit Freiheit und mit Glück.
Empfindungen von Kälte und Hitze, Insektenstiche, die Grenzen der eigenen Fähigkeit beim Bäumeklettern zu erkennen, zu spüren, dass ein Insekt „Angst“ hat, wenn man ihm zu nahe kommt, machen, dass das Kind sich selbst als Teil der Natur fühlt.
Forscher fanden, dass gerade vorpubertäre Kinder ein ausgesprochen emotionales Verhältnis zur Natur entwickeln, dass sie die in der Kindheit umgebende Natur auch später als „Heimat“ empfinden.
Und: Die meisten Menschen, die sich für eine intakte Umwelt einsetzen, haben in ihrer Kindheit ausgiebige eigene Naturerfahrungen im Spiel gemacht.
Umweltbewusstsein ist kein schmückendes Beiwerk. Menschen SIND Teil der Natur. Immer mehr Menschen leben auf der Erde, von immer weniger Ressourcen. Intelligente, umweltschonende, konfliktarme Lösungen für die Zukunft sind für unsere Kinder noch wichtiger als für uns.
Zum Weiterlesen:
Richard Louv: Das letzte Kind im Wald? Geben wir unseren Kindern die Natur zurück, Beltz 2011.
Renz-Polster, Herbert/Hüther, Gerald (2013): Wie Kinder heute wachsen. Natur als Entwicklungsraum. Ein neuer Blick auf das kindliche Lernen, Denken und Fühlen, Beltz 2013.
Weber, Andreas: Mehr Matsch! Kinder brauchen die Natur, Ullstein 2012.
Christiane Richard-Elsner: Draußen spielen, Beltz Juventa 2017.